Wie bricht man das Bild eines Stadtteils auf, das seit Jahrzehnten von Klischees und Zuschreibungen geprägt ist? Das Projekt ×Nordstadt to go“ des Planerladen versucht es: mit Stadtteilspaziergängen, Filmabenden und Diskussionen zu verschiedensten Nordstadt-Themen.
Die Kopfkino-Bilder von der Dortmunder Nordstadt sind kaum zu zählen. Die meisten sind übertrieben und pauschal, einige veraltet. Aber schafft man es, den Stadtteil denen näherzubringen, die ihn nur von Warnungen oder aus den Medien kennen? Der Planerladen versucht genau das in seinem Projekt „Nordstadt to go“. Mit Stadtteilrundgängen, Workshops, Lesungen und Diskussionsrunden schafft das Projekt Formate zur Begegnung und zum Austausch. „Wir wollen zeigen, dass die Nordstadt ein Ort ist, an dem man gerne lebt und gern zu Besuch kommt“, sagt Anna Tenholt, eine der Projektleiterinnen. Das Ziel: eine Gegenerzählung schaffen zum klischeebeladenen Bild von der angeblichen „No-go-Area“.
Die Veranstaltungen drehen sich um Themen, die den Stadtteil ausmachen: Zuwanderung, Wohnen, Diskriminierung, (Ess-)Kulturen. Beim Rundgang „Nordstadt schmeckt“ besuchen die Teilnehmenden unterschiedlichste Restaurants, lernen Essenskulturen kennen, lernen dabei etwas über „Ethnic Business“ und darüber, wie Zuwanderung die hiesige Foodszene prägt. So hat beispielsweise die Fluchtzuwanderung aus Syrien 2015dazu geführt, dass es seit einigen Jahren syrische Restaurants in Dortmund gibt. „Die Nordstadt hat durch ihre Gastronomie einen hohen Anziehungsfaktor, das wollen wir den Teilnehmenden näherbringen. Viele von ihnen sind bei den Touren überrascht, nicht nur vom Essen, auch von der Gastfreundlichkeit. Einige erzählten uns danach, dass sie ein paar Tage später wiedergekommen sind“, berichtet Anna Tenholt. Begegnung schaffen, um Scheu abzubauen – auch ein Ziel des Projekts, das vom Innen-, Bau- und Heimatministerium gefördert wird.
Darum, wie vor allem Jugendliche ihren Stadtteil wahrnehmen, ging es in einem Fotografie-Workshop. Beim Dortmunder Fotografen Leopold Achilles lernten junge Nordstädter:innen Grundlagen der analogen Fotografie kennen und haben selbst Orte eingefangen, die ihnen etwas bedeuten. „Das waren oft Orte, die andere gar nicht als besonders wahrnehmen“, erinnert sich Anna Tenholt: der Kiosk, in dem die junge Fotografin mit Freundinnen ihre Nachmittage verbringt. „Ihre Rettung“ nennt sie ihn. Die rote Backsteinkirche in der Münsterstraße, über die der Fotograf zu sagen hatte, es gehe nicht um die Religion, sondern darum, dass Gott für alle da sei. Der Sonnenuntergang, der sich in der riesigen Baumarkt-Scheibe spiegelt. „Für dieses Bild hat sich der Fotograf richtig viel Arbeit gemacht, um das richtige Motiv und den richtigen Zeitpunkt für sein Foto herauszufinden.“ Diese Bilder wirken: „Wir haben eine Auswahl im Depot ausgestellt. Dort sagten uns viele Besucher:innen, dass sie die Nordstadt so noch gar nicht kannten.“
Auch belastende Themen finden Platz im Projekt, Corona zum Beispiel. Der Dortmunder Journalist Abbas Dogan, im vergangenen Juli unerwartet verstorben, hatte für einen Dokumentarfilm „Corona bleibt. Was geht?“ im Auftrag des Planerladen Stimmen von Nordstadtfamilien versammelt. Sie erzählten von ihrem Alltag in der monatelangen Ausnahmesituation und machen dabei sichtbar, wie stark die Coronafolgen insbesondere auf Menschen mit wenig Geld, beengten Wohnverhältnissen, schlechten Bildungs- und Teilhabechancen wirkten.
Oder auch: Wo finden sich in der Nordstadt Spuren rechter Gewalt? Welche Lehren werden aus der Vergangenheit gezogen und welche Kontinuitäten zeigen sich? Vom Startpunkt Steinwache, dem Foltergefängnis der Gestapo hinter dem Hauptbahnhof, wird beim Rundgang durch die Nordstadt an NS-Widerstandskämpfer wie die „Edelweißpiraten“ erinnert, aber auch an Mehmet Kubas¸ık, der 2006 in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße vom sogenannten NSU ermordet wurde. Bis heute ist nicht klar, wer der Terrorzelle in Dortmund geholfen hat, kämpfen seine Familie und Aktivist:innen um Aufklärung. Die Ermittlungen, das weiß man heute, waren selbst von rassistischen Klischees geprägt, ein rechtes Motiv wurde ignoriert. Erst als der NSU sich 2011 selbst enttarnte, wurden Mehmet Kubas¸ık und die anderen Opfer und Familien rehabilitiert. Während der Mord von der Mehrheitsgesellschaft kaum wahrgenommen wurde, sei er für die Anwohner:innen ein tiefer Einschnitt gewesen, erklärt Tenholt: „Am damaligen Tatort erzählte zufällig eine Nachbarin, was für eine Schande es gewesen sei, dass die Tat nicht aufgeklärt wurde.“ Auch das ist Teil der Nordstadt.
Auch für die zweite Hälfte des Projekts hat „Nordstadt to go“ einiges geplant. Die Foodtour und die Diskussionsveranstaltung zu „Corona bleibt“ sollen noch einmal stattfinden. Am 8. Oktober ist „Nordstadt to go“ Teil des bundesweiten Aktionstages zum Mietenstopp. Denn auch in der Nordstadt steigen die Wohnungsmieten seit einigen Jahren spürbar. Ein weiteres Format wird sich mit Frauen in der Nordstadt beschäftigen – unter anderem jenen aus der sogenannten Gastarbeitergeneration, die vor über 60 Jahren nach Deutschland kamen und den Stadtteil bis heute prägen.
Zwei neue Touren sind bereits in Planung: Eine soll sich mit der Umgestaltung des Hafens und der Frage beschäftigen, welche Folgen er für die Wohnstrukturen und Mieten dort hat. Mit einer weiteren will das Projekt einen kritischen Blick auf (öffentliche) Räume und werfen. Kurzum: vieles, was bewegt – und, vor allem, Begegnung und Austausch schafft.
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