Wir wollen auch einen Ort zum Leben - Am 4. April 2012 wurde in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, ein Teil des lebendigen Stadtviertels Korail mit Bulldozern gewaltsam abgerissen. Die Räumung dieses vorwiegend von armen Bevölkerungsgruppen bewohnten Stadtviertels geschah unangekündigt und nahm in wenigen Stunden etwa 4.000 Personen das Dach über dem Kopf. Im Anschluss demonstrierten 30.000 Bewohner unter dem Slogan "Wir sind auch Menschen – wir wollen auch einen Ort zum Leben".
Wer als Besucher einen Tag in Korail verbringt, erlebt ein lebendiges Stadtquartier. Mit Sonnenaufgang fängt das Leben an. Auf Gas- und Feuerholzkochern bereiten die Arbeiterinnen der umliegenden Textilfabriken – in vielen wird auch für den deutschen Markt produziert – ihr Mittagessen zu, um es mit zur Arbeit zu nehmen. Kinder machen sich auf den Weg zur Schule. In den Marktbereichen öffnen Gemüse- und Obstläden, ein großer Markt mit frischem Fisch und Fleisch sowie zahlreiche Läden für Haushaltswaren und Kleidung. Manik, Vater von vier Kindern und schon seit 15 Jahren Bewohner von Korail, öffnet seine kleine Schneiderei und näht häufig bis 23 Uhr die traditionell von Frauen getragene Kleidung. Am Nachmittag spielen die Kinder Kricket und Fußball, Nachbarn, Verwandte und Bekannte versammeln sich in den zahlreichen kleinen Teestuben und tauschen sich über das Tagesgeschehen aus. Hier gibt es auch Farbfernseher, und oft verwandelt sich eine Teestube so in ein Kino.
So läuft das Leben für viele der 120.000 Bewohner bereits seit zehn bis 20 Jahren. Die Familien kamen aus den ländlichen Regionen Bangladeschs nach Dhaka, auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen. Das Land, auf dem sie leben, gehört der Regierung, die Korail bisher als Stadtquartier geduldet, aber nicht akzeptiert hat. So haben die Bewohner keinen offiziellen Anschluss an die städtische Infrastruktur wie Wasser und Strom. Stattdessen sind sie auf Selbstorganisation und Angebote von Nicht-Regierungsorganisationen angewiesen. Zugleich wäre Dhaka ohne die Bewohner von Korail und ähnlichen Stadtquartieren gar nicht denkbar, denn viele arbeiten in den umliegenden, besser verdienenden Stadtteilen als Bedienstete und Rikschafahrer. So wichtig Korail und seine Bewohner für die Stadt sind – sie führen seit 20 Jahren ein Leben in Unsicherheit über ihr Bleiberecht in Dhaka.
Am 4. April 2012 wird diese Unsicherheit unvermittelt ins Bewusstsein gerückt. Lautsprecherdurchsagen am Vortag verkündeten die Räumung eines acht Meter breiten Streifens entlang einer Hauptstraße. Die Betroffenen sind nicht zur Arbeit gegangen, um ihren Besitz in Sicherheit zu bringen. Ganze Zimmer aus Wellblech werden weggetragen. Gegen 11.00 Uhr positioniert sich der Gerichtsvollzieher mit zwei Bulldozern und vier Polizeibataillonen. Auf dem acht Meter breiten Streifen stehen keine Häuser mehr, alles wurde für eine Wiedernutzung in Sicherheit gebracht. Doch die Bulldozer halten sich nicht an die acht Meter und zerstören auch die dahinterliegenden Bereiche, fahren über Wellblechzimmer, Schulen und Sanitäranlagen – viele davon mit dem Geld von Nicht-Regierungsorganisationen aus dem In- und Ausland gebaut und betrieben. Aus den Zimmern laufen Menschen, suchen nach Verwandten in der Angst, diese könnten unter den zerstörten Hütten liegen. Dann fangen sie an, in der Zerstörung nach ihrem Hab und Gut zu suchen, versuchen zu retten, was sich noch weiterverwenden lässt. Ein Mann zieht die Überbleibsel seines Motorrollers aus einem zerstörten Zimmer. Eine Frau sammelt auf dem Boden verstreute Reiskörner zusammen – wahrscheinlich die geplante Mahlzeit für den Tag.
Die Nachricht verbreitet sich schnell im gesamten Stadtquartier, und keiner weiß, wie weit die Bulldozer vordringen werden. Auch Maniks Familie ist alarmiert. Als die Geräusche der Bulldozer näher kommen, sucht Akifa, Maniks Frau, schnell nach den drei kleinen Kindern. Dann sucht sie ihren Goldschmuck, ihr wertvollster Besitz, der Hochzeitsgeschenk und zugleich Absicherung für sie und die Kinder ist. Ria, die zweitälteste Tochter, weint. An diesem Tag kommen die Bulldozer nicht bis zu Maniks Haus. Das Gefühl der Unsicherheit bleibt jedoch, und vorsichtshalber wird das Geld für einen raschen Abtransport ihres persönlichen Besitzes und der Stoffrollen aus dem Schneiderladen bereit gelegt.
Die Zukunft von Korail bleibt weiter ungewiss. Im Nachgang der Räumung kam es zu weitreichenden Protesten, sodass die Regierung diese vorerst stoppte und das weitere Vorgehen nun am Obersten Gerichtshof verhandelt wird. Die Geschehnisse haben ein weiteres Mal deutlich gemacht, dass Politik, Verwaltung und Gesellschaft die ärmeren Bevölkerungsgruppen nicht als gleichberechtigte Bürger der Stadt wahrnehmen. Anstatt ihnen die Möglichkeit zu geben, ihren eigenen Ort zum Leben aufzubauen, werden ihre Lebensgrundlagen zerstört, weil Investoren und Immobilienentwickler permanent auf der Suche nach Land für exklusiven Wohnraum für die Mittel- und Oberschicht sind. Doch ohne die Bevölkerung von Korail würden Verkehr und Müllentsorgung zusammenbrechen, müssten die Reichen der Stadt ihre Wohnungen selbst instand halten, würde niemand für sie kochen und keiner die Schulen, Krankenhäuser und Universitäten bauen und würden auch wir hier in Deutschland keine günstigen Kleidungsstücke kaufen können. Das Recht auf einen Platz zum Leben in der Stadt wird deutlich in der Aussage einer Person, die sich im Stadtquartier engagiert und Kontakte zu verschiedenen Organisationen aufrechterhält: "Wir leben in einem Slum, also nennt man uns ‚Slumbewohner‘. Aber wir wurden nicht als Slumbewohner geboren! Wir sind die Verwandten von Politikern und Intellektuellen. Vielleicht schämen sich diese Leute für uns, aber wir schämen uns nicht! Wenn sie uns besuchen, versuchen wir sie mit größtmöglicher Gastfreundlichkeit willkommen zu heißen – sogar wenn wir eigentlich kein Essen servieren können. Aber die Führungspersonen unserer Gesellschaft sind zurückhaltend zu zeigen, dass wir etwas gemeinsam haben, dass uns etwas verbindet."
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